Sonntag, 29. Juli 2007

Das Marlowe-Syndrom

Eigentlich sollte heute der 2. Teil von »Porto in vier Farben« hier stehen. Aufgrund des schlechten Wetters habe ich mich aber entschieden, einen Text einzustellen, den ich vor fünf Jahren geschrieben habe…

Das Marlowe-Syndrom.

Wenn es dir schlecht geht, greif zum Telefon, ruf jemanden an, mit dem du eigentlich nie wieder irgendetwas zu tun haben wolltest, dessen Telefonnummer du eigentlich gar nicht mehr haben solltest, die du aber aus irgendeinem Grund doch aufgehoben hast. Warte, bis sich alle anderen Freunde, mit denen du die ganzen Jahre deine Zeit verbracht hast, mit denen du dich in Kneipen verabredest hast, die du zu Hause besucht hast, die dir ein Ohr geliehen haben, weil es dir schlecht ging und von denen du dir dafür ein Ohr abkauen lassen musstest, aber alles in allem war es eine faire Sache, denn sie haben dich nicht mehr beläsigt als du sie und genau betrachtet glichen die Probleme, die sie mit der Welt hatten auf unheimliche Weise deinen eigenen. Das machte es einfacher, nehme ich an, man kann sich schwer auf Probleme einlassen, auch wenn man noch so ein guter Zuhörer ist, die nicht von dieser Welt sind, zumindest nicht von deiner oder ihrer, Probleme, die kleine Mädchen mit dem Erwachsensein haben, und das genau ist der Punkt, an dem du den Fehler begehst, eines dieser Mädchen, mit denen du vor einem Jahr oder zweien mal zu tun hattest, anzurufen, weil deine Freunde alle im Sommerloch verschwunden sind und du sie gerade in diesem Moment auf eine Reise durch die Barwelten einladen wolltest. Du begehst nicht allein diesen Fehler. Ihm gehen eine ganze Reihe kleinerer Fehler voraus, und erst am Ende machst du diesen letzten und größten und wählst ihre Nummer. Den ersten hast du begangen, als du ihre Telefonnummer nicht in tausend Schnipsel zerrissen, die Schnipsel mit Benzin getränkt verbrannt und die Asche in einer Bleikapsel eingeschlossen im Sankt-Andreas-Graben versenkt hast. Wenn der erste Fehler nicht noch weit davor lag, dann lass dies als Anfang gelten. Den zweiten Fehler, wenn wir einmal dabei sind, hast du begangen, als du die Telefonnummer nicht nur nicht vernichtet, sondern auch noch benutzt hast. Ich meine nicht, um damit irgendwelche Gedächtnisspielchen oder kabbalistischen Untersuchungen anzustellen, sondern benutzt, um dieses Mädchen, dass mit dem Erwachsenwerden die üblichen Probleme hat, anzurufen, obwohl du genau wusstest, dass das einzige Resultat dabei sein konnte, dass sie dich in genau diese Probleme mit hinein ziehen würde. Es interessiert sie kein Bisschen, dass du ganz andere Probleme hast. Unwichtigere, in ihren Augen, denn alles, was diese kleinen dunklen Mädchenaugen wahrnehmen, ist ein riesiger Berg von selbstgemachten Schwierigkeiten, die sie daran hindern, das Leben als das zu akzeptieren, was es ist: ungerecht und grausam. Das heißt, sie sieht durchaus die ungerechten oder grausamen Seiten des Lebens, aber eben nicht die wirklichen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten, die weit weniger dramatisch daherkommen, als sie sich das vorstellt. Kein Mord und Todschlag, kein Blutvergießen, ganz sanft und auf rosa Wölkchen kommen sie daher. Aus ihrem Mund und aus den Mündern einer ganzen Armee von kleinen Mädchen ihrer Art, die sich allen Ernstes vorgenommen haben, nie jemandem im Leben weh zu tun, sich nie in emotional ausweglose Situationen zu bringen und die dieses Ziel mit der Präzision einer lasergesteuerten Rakete und um den Preis einer beispiellosen Kaltschnäuzigkeit auch erreichen. Von der ganzen Welt erwarten sie Verständnis für alles, sie wähnen sich praktisch im Besitz eines Blankoschecks vom lieben Gott persönlich, ausgestellt auf die Bank vom Heiligen Geist. Ein solches Mädchen würde dir ohne weiteres, wenn sie zu wählen hätte zwischen ihrer Integrität und dir, eine Kugel in den Kopf schießen. Es ist ganz unvermeidlich, sich mit ihnen einzulassen, sie finden einen unweigerlich, und ich war blöd genug, mich mit einer von ihnen einzulassen, und, nachdem ich mit ein paar gehörigen Schrammen davon gekommen war, ihre Telefonnummer nicht sofort zu verbrennen.
Immerhin hatte ich die Nummer nach etwas mehr als einem Jahr vergessen. Ich hatte außerdem alle anderen Spuren von ihr vernichtet, nur dieses gottverdammte Notizbuch hatte ich irgendwo aufgehoben unter dem Vorwand, dass sich darin außer ihrer noch die Telefonnummern von ein paar wirklich alten und entfernen Freunden befanden, Freunde von der Sorte, die man nach Jahren anruft, um dann, von einer plötzlichen Ahnung getrieben, den Schreibtisch nach ihrer Telefonnummer zu durchforsten und festzustellen, dass man sie wohl aus Versehen weggeschmissen hat. Kurz darauf ruft eben dieser Freund in der Regel an und teilt dir mit, dass er sich gerade in der Stadt aufhält, man trifft sich, geht einen heben, es ist ein prickelndes Gefühl, fast wie bei einem Rendevous, um dieses altmodische Wort wieder einmal zu gebrauchen, man redet etwas von früher, trinkt dabei, und wenn es nichts mehr zu reden gibt, dann trinkt man eben nur noch, bis man so voll ist wie ein Gully nach einer Woche Dauerregen. Das ist dann das Ende, wenn man davon absieht, dass es noch ungefähr drei Tage braucht, bis man seinen Magen einigermaßen saniert hat von dem Gezeche. An diesem Punkt schmeißt man dann auch den Bierdeckel mit der Telefonnummer des Freundes weg und hofft, dass der andere es genau so macht. Unter solchen Nummern befand sich also die letze Dame meines Herzens, schon wieder so ein altmodischer Ausdruck. Ich hätte immer noch wie eben beschrieben verfahren können, das Ergebnis wäre nur ein Jahrhundertkater gewesen, und das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich mir mit einem Anruf bei ihr einbrockte. Das Marlowe-Syndrom. Wenn du gerade einen Sack voll Ärger am Hals hast, dann greif zum Telefon und diese Bürde wird dir leicht vorkommen, denn was dich bei diesem Mädchen erwartet ist nicht weniger als die Hölle. Das Schlimmste daran ist, dass man sich nicht wehren kann. Nicht mal der ausgebuffteste Talkmaster hätte auch nur den Hauch einer Chance. Und Schweigen ist bei ihr auch kein Gold, sondern Blei. Kaliber .44. Also lass die Hände wo sie sind. Keine Tricks. Schieb das Telefon auf die andere Seite vom Schreibtisch. Ganz langsam. Sieh nicht hin, sieh zur Wand. Die Finger gestreckt. So, und jetzt nimm die Hand zurück, auf den Rücken. Hier, nimm eine Zigarette. So ists gut. Und jetzt die Nummer. Nicht aufsagen, ich denke du hast sie vergessen?! So schnell wieder gelernt? Ich will nicht die Nummer hören. Ich will das kleine Buch aus deiner Tasche. Nur diese eine Seite mit ihrer Nummer. Schieb es auch rüber auf die andere Seite. Danke. Was? Ach ja, einen Aschenbecher. Danach hätte ich dich sowieso noch gefragt. Wozu? Die Zigarettenasche. Sicher. Wo finde ich einen? Im Schreibtisch? Auf deiner Seite, aha. Nimm ihn raus, keine Tricks. So, stell ihn dahin, in die Mitte. Genau. Und jetzt werde ich diese eine Seite hier rausreißen aus dem Buch und die nächste auch noch. Warum die nächste? Die Schrift drückt sich durch, wenn man mit Kugelschreiber schreibt, das weißt du doch? Damit hast du doch gerechnet, oder? Dass ich es nicht weiß? Ich werde noch warten, bis du deine Zigarette aufgeraucht hast, solange etwa wird es dauern, bis die beiden Blätter verbrannt sind. Ich hinterlasse nicht gern Spuren, das solltest du dir mal zu Herzen nehmen, das ist eine der Grundregeln in diesem Spiel, das du das Leben nennst. Ich hab keinen Namen dafür, und ich hinterlasse niemals Spuren. Hier ist ein Kuvert. Gib die Asche hinein und kleb es zu. Gut. Jetzt gib es mir zurück. Okay. Ich werde jetzt gehen, das heißt nicht, dass wir dich nicht mehr beobachten. Wir hören auch dein Telefon ab. Versuch gar nicht, dich an ihre Nummer zu erinnern. Vergiss sie. Versuch nicht, uns aufs Kreuz zu legen und von einer Telefonzelle anzurufen. Wir zapfen auch ihr Telefon an. Ein bisschen mehr Professionalität solltest du uns schon zutrauen, und schreib die Nummer auch nicht nochmal auf, wenn du nicht willst, dass wir uns wiedersehen. Auf Bald, Spürnase.

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